Russia

We travel from St. Petersburg to Chayki, Oblast Pskow.

As a child you accept things as they are. During the trip I realize that there’s something I would have liked to experience. Something that was natural for other children. Sitting on your grandfather’s lap. Walking with him, holding his hand. Hearing his voice saying my name. That never happened.

Maybe I’m here exactly because of this and don’t want to leave. I want to understand a feeling that I didn’t even know existed.

But there is another reason, too: There is a distance to people whose lives don’t intersect with yours. A picture on the wall and the purely random circumstance of kinship are not enough. Now there’s an intersection. It’s right here, at this place, in Chayki. Where Ernst Schult fell, and his son and his granddaughter search for traces. Just like my grandfather, I walked through the forest and the sandy streets of Chayki. Like Ernst Schult, I looked into the flat wooded countryside. Now I ask myself what exactly I’m doing here.

In Chayki the forest accelerates the forgetting. It already swallowed an old school and an old cemetery. It’s a strange place, surrounded by swamp, sand, lakes, and forests. What did they want here anyway, asks my father now. The seclusion of this place maybe even encouraged the barbarian acts that took place here. Some soldier maybe thought that his crimes would go unpunished here, in this blind spot of the world.

I slowly recognize a change in my father. Here he himself becomes a son again, a child. Maybe this role gives him the opportunity to be vulnerable just once, an opportunity that he didn’t have very often in his life. Later he tells me, that his first and last memory of his father was how he played ball with his older brother. He was jealous of his older brother. He wasn’t even three years old then.

He’s convinced that his father did no wrong here. I have my doubts. But it’s all speculation. The ones who know are no longer among the living. When my father hears from an aged partisan that the Wehrmacht horrifically massacred the population during its retreat, in Chayki, too, not even saving young children, it hits him very hard. Four thousand Russian soldiers died here. As the old partisan talks, he touches my father’s hands often.

Further north, as we learn later, in the city of Pskow, the SS and secret service went on a raging rampage, slaughtering and enslaving people. The population was put under siege, cut off from food delivery, and put in camps outside of the city. Crowds of people were left to die of hunger. Of the hundreds of thousands who have been murdered only 143 inhabitants were left in Pskow.

Russland

Wir reisen von St.Petersburg nach Chayki, Oblast Pskow:

Als Kind nimmt man die Dinge hin, wie sie sind. Während der Reise wird mir klar, dass es etwas gibt, das ich gerne erlebt hätte. Etwas, dass für andere Kinder selbstverständlich war. Auf dem Schoß des Opas zu sitzen. An seiner Hand zu gehen. Seine Stimme meinen Namen rufen zu hören. Das ist nie geschehen.

Vielleicht bin ich genau deshalb hier und will nicht weg. Ich will ein Gefühl verstehen, von dem ich nicht wusste, dass es überhaupt existiert.

Es gibt aber noch einen Grund: Es besteht eine Distanz zu Menschen, deren Leben sich nicht mit dem eigenen überschneidet. Ein Foto an der Wand und die rein zufällige Tatsache der Verwandtschaft genügen nicht. Nun gibt es aber eine Überschneidung. Es ist genau hier, in diesem Ort: in Chayki. Wo Ernst Schult gefallen ist, und wir, sein Sohn und seine Enkeltochter nach Spuren suchen.

Genau wie mein Großvater bin ich durch den Wald und die sandigen Straßen von Chayki gegangen. Wie Ernst Schult habe ich in das flache bewaldete Land geschaut. Jetzt frage ich mich, was ich eigentlich hier mache.

In Chayki beschleunigt der Wald das Vergessen. Eine Schule und einen alten Friedhof hat er schon verschluckt. Es ist ein seltsamer Ort, umgeben von Sumpf, Sand, Seen und Wäldern.

Was haben sie hier nur gewollt, fragt mein Vater.

Vermutlich hat die Abgeschiedenheit dieses Ortes die Barbarei noch begünstigt die hier stattgefunden hat. Mancher Soldat glaubte vielleicht, dass seine Taten, hier in diesem toten Winkel der Welt, ungesehen und ungesühnt bleiben würden.

An meinem Vater bemerke ich allmählich eine Verwandlung. Hier wird er selbst wieder zum Sohn, zum Kind. Vielleicht gibt ihm diese Rolle die Möglichkeit einmal verletzlich sein zu dürfen, eine Gelegenheit, die er in seinem Leben sicherlich nicht oft hatte.

Später erzählt er mir, dass seine erste und zugleich letzte Erinnerung an seinen Vater gewesen sei, wie dieser mit seinem großen Bruder Ball gespielt hatte. Eifersüchtig sei mein Vater auf seinen Bruder gewesen. Da war er noch nicht einmal drei Jahre alt.

Er ist davon überzeugt, dass sein Vater sich hier nichts hat zu Schulden kommen lassen. Ich zweifle daran. Aber das ist alles Spekulation. Die, die es wissen, leben nicht mehr.

Als mein Vater von einem uralten ehemaligen Partisanen erfährt, dass die Wehrmacht auf dem Rückzug – auch in Chayki – schreckliche Massaker an der Bevölkerung anrichtete und selbst Kleinkinder nicht schonte, trifft es ihn sehr. 4.000 russische Soldaten sollen hier gefallen sein. Als der alte Partisan spricht, berührt er mehrfach die Hände meines Vaters.

Weiter oben im Norden, so erfahren wir später, in der Stadt Pskow, wütete die Schutzstaffel (SS) und der Sicherheitsdienst (SD). Es wurde gemetzelt und versklavt. Man schnitt die Bevölkerung von der Lebensmittelversorgung ab und sperrte sie in Lager außerhalb der Stadt, ließ sie scharenweise verhungern. Von Hunterttausenden, die ermordet wurden, waren bei der Befreiung nur noch 143 Einwohner in Pskow.