Mikropolitik der Kreativen

Berlin ist ein außergewöhnlicher Ort, an dem andere Regeln als in den meisten Metropolen der westlichen Welt zu gelten scheinen. Ihren Ruf verdankt die Stadt vor allem der historisch bedingten politischen und ökonomischen Ausnahmestellung während der Zeit des Kalten Krieges. Aufgrund dieser Ausnahmestellung verfügten die Menschen Berlins nicht nur über eine größere Unabhängigkeit von etablierten kulturellen Normen, Werten und Märkten, sondern auch über einen ungewöhnlichen Überschuss an Zeit. Daher entwickelte sich Berlin in dieser Periode auch zu jener außerordentlichen Stadt, in der Intellektuelle, Künstler und Kreative aller Art besonders privilegiert leben konnten.

Zweifellos besitzt auch das heutige Berlin eine besondere Bedeutung für Kreative aus der ganzen Welt. Tatsächlich sind die internationalen kreativen Klassen der Stadt auch heute besonders produktiv, wahrscheinlich viel kreativer und produktiver als je zuvor, immer damit beschäftigt, neue und aufregende Bilder und Zeichen, neue Ideen und Trends, neue Start-ups, Restaurants, Clubs und Lebensmodelle zu erfinden. Allerdings haben sich die Bedingungen mit der Wiedervereinigung und der Rückkehr zur politischen und ökonomischen Normalität extrem gewandelt. Seit dem Verschwinden des politischen und ökonomischen Ausnahmezustands Berlins folgen die kreativen Klassen wieder zunehmend der Logik des Marktes, die sie zweifellos viel kreativer und produktiver macht. Zugleich ist aber nicht nur jener enorme Überschuss an freier Zeit verschwunden, der es den Menschen erlaubte, ihr Leben unabhängig von äußeren Zwängen in alternativen Lebensmodellen und in Form kreativer und kommerziell irrelevanter Arbeit zu verwirklichen, vielmehr hat die Kreativität auch ihre magisch-politische Aura verloren, die sie in der Zeit des Kalten Krieges besaß und die man noch heute mit den Mythen der Avantgarden und Neo-Avantgarden, mit Spontis, Autonomia, Punk und Post-Punk verbindet.

Was in einer so außergewöhnlichen Stadt wie Berlin und ihren kreativen Klassen sichtbar wird, ist daher ein allgemeiner gesellschaftlicher Wandel. Denn die kreative Arbeit, die früher ein Zeichen gesellschaftlicher Autonomie und kultureller Opposition war, ist heute nicht nur in Berlin, sondern in der westlichen Gesellschaft überhaupt zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Norm geworden. In einer konservativen Gesellschaft, in der das alltägliche Leben vor allem darauf ausgerichtet ist, bestimmte Sitten und Normen, Werte und Abläufe ohne größere Differenzen zu reproduzieren, besitzen die sogenannten kreativen Klassen eine Art magisch-politischer Aura. Denn jeder kreative Akt muss als ein Bruch, als eine negative Anpassung an die Tradition verstanden werden. Auf diese Weise erzeugen die Kreativen in einer konservativen Atmosphäre nicht nur den Effekt einer Befreiung des Individuums von den gesellschaftlichen Fesseln, den etablierten Normen und Werten, die durch Sitten und Staatsapparate kontrolliert werden. Aus genau diesem Grund werden sie immer auch als eine wirkliche Gefahr für die etablierte Ordnung und daher als Gefahr für das Funktionieren der Gesellschaft als solcher wahrgenommen.

Im Unterschied zur Zeit des Kalten Krieges, in der die Gesellschaft im Osten wie im Westen eher konservativ war, werden heute, im Zeitalter des Neoliberalismus, alle Menschen dazu angehalten, kreativ, flexibel und selbstständig zu sein. Die Kreativität verliert daher genau in dem Maß, wie sie selbst zu einer gesellschaftlichen Norm wird, ihren politischen Effekt. In Berlin, wo die Werte der Kreativität und der Selbstverwirklichung deutlicher als anderswo zur Norm geworden sind, äußert sich dieser Verlust einerseits in der Rückkehr zur Tradition als Lifestyle, der sich vor allem im Wiederaufbau der alten aristokratischen Stadtschlösser manifestiert. Andererseits, und wichtiger für die Dynamik der Stadt, offenbart sich der Verlust in der Affirmation eines immer schon aufgeklärten, selbstbewusst kreativen Lifestyles und der apolitischen Mikropolitik des Hipsters, die auf die großen politischen Gesten und Effekte ganz verzichtet und in der Anarchie und dem Schicksal des Marktes die Anarchie und das Schicksal des Lebens wiederentdeckt.