Was kann gute Dramaturgie leisten? Anlässlich der Verleihung des Marie Zimmermann-Stipendiums für Dramaturgie trafen wir Friedrich Schirmer, den Mitbegründer des Stipendiums und Intendant der Landesbühne Esslingen und den Chefdramaturgen Marcus Grube. Im Büro riecht es leicht nach Räucherstäbchen, die den Geruch des Wasserschadens überdecken sollen, der sich über Schirmers Schreibtisch fleckig durch die Wand drückt. Wäre der Wasserschaden ein Theaterstück und der verantwortliche Dramaturg gut, wäre das nicht passiert, da ist sich Friedrich Schirmer sicher.
Judith Engel: Sie haben das Marie-Zimmermann-Stipendium zusammen mit der Akademie Schloss Solitude initiiert. Was war die Intention dahinter?
Friedrich Schirmer: Einerseits wollten wir etwas schaffen, was auch für Marie Zimmermann steht. Marie Zimmermann war eine grandiose Dramaturgin und Festivaldirektorin, die ihren eigenen Weg über Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in die Dramaturgie und dann später auch als Kuratorin ins Theater genommen hat.
Da es für junge DramaturgInnen im Gegensatz zu SchauspielerInnen, BühnenbildnerInnen, RegisseurInnen und AutorInnen keine vergleichbaren Preise und Stipendien gab, waren Herr Joly und ich der Meinung, es wäre ein guter Moment etwas im Gedenken an die Ausnahmedramaturgin Marie Zimmermann zu stiften. Gleichzeitig wollten wir auch etwas für die Dramaturgie tun. Der damalige Präsident der Dramaturgischen Gesellschaft fand die Idee sofort genial, denn es gab nichts, wo ein junger Mensch, der diesen schwierigen und wunderbaren Beruf ausübt, mal Aufmerksamkeit, Anerkennung oder eben einen Moment der Reflektion bekommt. Wir sind als Dramaturgen immer am Machen. Ich hatte als Dramaturg nie Zeit für drei Monate aus dem Betrieb auszusteigen, meine Tätigkeit zu reflektieren und Kräfte zu sammeln. Das war die Idee, die zwischen Herrn Joly und mir entstand. Ich war sehr dankbar, dass die Akademie Schloss Solitude bereit war dieses Stipendium mitzutragen und die StipendiatInnen zu beherbergen. Wenn ich mir nun die Reihe der grandiosen DramturgInnen, die dieses Stipendium wahrnehmen konnten, ansehe, dann bin ich stolz darauf, dass wir damals diese Idee hatten.
»DramaturgInnen sind immer Anwalt des Prinzips dessen, was hinter einem Stück steht: der Subebene des Stückes, des Unsichtbaren, des nicht Offensichtlichen und dürfen währenddessen das Offensichtliche nicht aus dem Blick verlieren.«Friedrich Schirmer
JE: Was zeichnet denn so einen grandiosen Dramaturgen, eine grandiose Dramaturgin aus?
FS: Ich würde vielleicht eher von besonderen DramaturgInnen sprechen.
Ich finde Dramaturgie ist eine Begabung. Das ist etwas, das man nur bedingt lernen kann. Ein Dramaturg muss das Wesentliche im Blick haben. Er oder sie muss einerseits wissen, worum es geht und gleichzeitig aber auch sehen, was unter den Bedingungen des jeweiligen Hauses realisierbar ist. Auf der einen Seite sind DramaturgInnen also Vertreter der Utopie, auf der anderen Seite müssen Sie genauso RealistIn sein. Sie sind immer Anwalt des Prinzips dessen, was hinter einem Stück steht: der Subebene des Stückes, des Unsichtbaren, des nicht Offensichtlichen und dürfen währenddessen das Offensichtliche nicht aus dem Blick verlieren. Diese dialektische Aufgabe macht den Beruf so besonders schwer. Ein/e DramaturgIn muss im richtigen Moment und im richtigen Ton, das Richtige sagen. Weiterhelfen und gleichzeitig mitproduzieren und wiederum gleichzeitig allererste/r KritikerIn sein. Das ist das Besondere.
JE: Wie kann man sich die Tätigkeit eines Dramaturgen ganz konkret vorstellen?
Marcus Grube: Reden.
FS: Reden und Lesen. Früher hätte ich gesagt, dass es den ganzen Bereich vom Lesen der Texte von Sekundärliteratur über die Kenntnis des historischen Hintergrunds sowie unterschiedlicher Textfassungen bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit, der Arbeit am Programmheft, Werbung und Spielplan erstellen, umfasst. Heute erweitert sich die Tätigkeit um eine ganze Dimension, die es vorher noch nicht gab, denn der Dramaturg ist die einzige Konstante außer den Schauspielern. Die Regisseure kommen und reisen dann in Ehre oder in Schande wieder ab. DramaturgInnen bleiben und müssen die Arbeit vertreten und sie kommunizieren.
»Wir vermitteln auf allen Ebenen: Im Haus, mit der Technik, mit den Schauspielern, mit dem Publikum.«Marcus Grube
MG: Es ist eine Mischung aus Produktionsleitung, im Film würde man Mitproduzent sagen…
FS: …und des strategischen Überblickes, der abwägt, welche Idee des Regisseurs realisierbar ist, Sinn macht und an die Theaterleitung weitergegeben werden kann oder auch durchgesetzt werden muss. Regisseure nutzen die Dramaturgen auch oft als Portal, um szenische Vorstellungen durchzusetzen. Gibt es da einen Musiker auf der Bühne, oder mehrere oder sogar einen Chor? All das entwickelt der Regisseur mit dem Dramaturgen.
MG: Es kommt noch ein wesentlicher Bereich hinzu, das ist der vermittelnde Bereich, deshalb habe ich Reden gesagt. Wir vermitteln auf allen Ebenen: Im Haus, mit der Technik, mit den Schauspielern, mit dem Publikum.
FS: Dramaturgen sind auch die erste Klagemauer. Schauspieler, die mit der Arbeit während der Produktion irgendwie unzufrieden sind, kommen in der Regel erstmal zu Marcus. Da erfordert es einen fast therapeutischen Ansatz, herauszufinden, wann es sich um Befindlichkeiten handelt oder ob sich da wirklich eine Krise zusammenbraut, die man nicht wahrnimmt – wie so ein Wasserschaden, den ich hier gerade im Büro habe. Ich habe auch eine Woche lang nur bemerkt, dass es nach Rauch riecht und plötzlich war die Wand nass.
Eine gute Dramaturgie muss aber auch nach außen funktionieren. Zum Beispiel mit der Technik bei Bauproben. Wir laden dazu die Vorstände der Werkstätten ein und die wollen dann hören, was das für ein Stück ist, was man damit will und warum man meint, dass es jemanden interessieren sollte. Wie eine erste Saat.
JE: Das hört sich nach einer sehr vermittelnden, kittenden Position an.
MG: Ja. Und gleichzeitig geht es auch noch um die Entwicklung der Leitbilder der Intendanz, die Bestimmung einer Unternehmensethik.
FS: Die Spielplanlinien der nächsten Jahre haben wir zusammen entwickelt. Nicht das Spielzeitmotto, sondern…
MB: …was diese Spielstätte im Kern zusammenhält.
FS: Und zwar über die ganzen sechs Jahre. Das haben wir zusammen entwickelt nach einem Zitat von Heiner Müller, das ich per Zufall in einem Prospekt meines Vorgängers gefunden habe. Heiner Müller hat sinngemäß gesagt: Das letzte Jahrhundert, das 20. Jahrhundert, war das kürzeste der Menschheitsgeschichte. Es begann am 1. August 1914 und endete am 9. November 1989. Das finde ich sehr klug. In diesen kurzen zwei Sätzen hat er eigentlich das ganze Dilemma des 20. Jahrhunderts erfasst. Wir haben daraus abgeleitet, dass wir uns in diesen sechs Jahren um einen Blick auf dieses Jahrhundert bemühen möchten. Natürlich wird dazwischen auch Shakespeare und anderes gespielt. Aber der Spielplan hier ist sozusagen ein klassischer Dreisprung. Er muss erst einmal für das Theaterpublikum in Esslingen ein Spielplan sein, gleichzeitig muss er aber auch einen gewissen Glanz haben, sodass das Stuttgarter Publikum auch Lust hat zu kommen und er muss reisefähig sein.
»Wenn sie ein Talent haben, aber die Handwerklichkeit fehlt, dann ist das Talent nichts mehr wert. Ich finde, das kann die Ausbildung zum Dramaturgen leisten. Den Rest macht das Leben.« –Marcus Grube
MG: Sie haben von dem Wort Begabung gesprochen, um auf das zurückzukommen, was Friedrich vorher schon erwähnt hat. Für mich ist dramaturgisches Arbeiten auch eine Frage der Persönlichkeit, die unterschiedliche Konstellationen und Schwerpunkte zulässt. Es gibt Häuser mit einer sehr lauten Dramaturgie. Da steht überall Dramaturgie drauf. Uns sind die Inhalte wichtiger und das, was wir auf der Bühne zeigen. Gespielt wird auf dem Spielfeld und nicht am Spielfeldrand.
JE: Jetzt haben sie beide den Begriff Begabung aufgegriffen und vorhin gesagt, dass man gute Dramaturgie nicht unbedingt lernen kann. Elisabeth Schweeger, Direktorin der Akademie für Darstellende Künste, spricht nun aber auf der Preisverleihung über das Thema »Wozu und wie bildet man Dramaturgen aus?«. Wie kann man sich vor dem Hintergrund der Begabung eine solche Dramaturgen-Ausbildung vorstellen?
MG: Ich glaube, dass es schon eine Handwerklichkeit gibt. Das ist wie in jedem Beruf. Wenn sie ein Talent haben, aber die Handwerklichkeit fehlt, dann ist das Talent nichts mehr wert. Ich finde, das kann die Ausbildung zum Dramaturgen leisten. Den Rest macht das Leben. Viel von unserer Arbeit ist Diplomatie und im diplomatischen Dienst sitzen meistens Volljuristen. Aber nur weil man ein guter Volljurist ist, ist man noch lange kein guter Diplomat. Sie müssen die Fähigkeit haben mit Sprache umzugehen, deshalb habe ich vorhin gesagt: Reden.
FS: Und man muss die Fähigkeit haben zu beobachten und Entwicklungen zu sehen. Eine Momentaufnahme während der Arbeit an einem Stück festzuhalten und die Richtungen zu sehen, wo diese Momentaufnahme hinführt, wo sie noch nicht ist, aber noch hinkommen kann. Oder ob diese Richtung in ein Desaster führt.
»Dafür braucht man eine gewisse Beharrlichkeit und ein offenes Herz.«Friedrich Schirmer
Natürlich ist es kein einfacher Prozess der Regisseurin oder dem Regisseur diese Beobachtungen mitzuteilen. Denn er oder sie wird diese Arbeit erst mal verteidigen wie eine Löwenmutter ihre Brut. Damit wir aber nicht zu einem Jubelpersertum verkommen, müssen wir sagen, was wir sehen. Dafür braucht man eine gewisse Beharrlichkeit und ein offenes Herz.
JE: Wie ist es zu erklären, dass es in anderen Ländern diese zentrale und vermittelnde Position des Dramaturgen/der Dramaturgin überhaupt nicht gibt?
FS: Meine These ist, dass das deutsche Theatersystem das positive Erbe der deutschen Kleinstaaterei ist. Als die Höfe, die sich je nach Finanzkraft Opernhäuser oder nur Schauspielhäuser geleistet haben, pleite gingen und die bürgerliche Gesellschaft die Theater in Besitz genommen hat, da hat man natürlich die Theater nicht Theaterleuten anvertraut, sondern pensionierten Schuldirektoren, Rittmeistern, ehrbaren Leuten, die mit Geld umgehen konnten. Intendant ist ein Begriff aus der französischen Militärverwaltung. Man brauchte jemanden, der von Theater eine Ahnung hatte, der Stücke lesen konnte und wusste, wie man »Die Räuber« besetzen kann. Im Grunde jemand, der das Theater zusammenstellen konnte. Dramaturg heißt, glaube ich, Dramenschneider. Daraus ist später auch erst der Regisseur entstanden. Deshalb gibt es diesen Beruf auch eigentlich nur im deutschsprachigen Theater in dieser Fülle und Breite. Der Quantensprung in der Dramaturgie kam aber erst Ende der Sechziger oder in den Siebziger Jahren durch die Schaubühne.
MG: Das sind historische Entwicklungen so wie Sie im OP plötzlich einen Anästhesisten statt einer Narkoseschwester haben. Was man sicherlich in den letzten Jahren beobachten konnte, ist, dass dieses singuläre deutsche Phänomen sich international ausweitet. Das könnte eine ganz wichtige Position, ein Korrektiv sein, gerade in einem Theater, das sich sehr stark zu einem Regietheater entwickelt hat und man nun plötzlich bemerkt, dass doch eine vermittelnde Instanz innerhalb der Häuser gebraucht wird.
»Man dient etwas, das größer ist, als man selbst.« Marcus Grube
JE: Was schätzen Sie am meisten an dieser Tätigkeit?
MG: Ich glaube, das ist schwer zu sagen. Was ich wichtig finde ist, dass das eine Art dienende Tätigkeit ist. Man dient etwas, das größer ist, als man selbst. Das hat mich daran immer gereizt, das war immer die innere Motivation.
FS: Marcus hat das im Vorgespräch schön beschrieben. Ich zitiere Sie jetzt: Gute Dramaturgie ist unsichtbar.
MG: Das ist so, wie wenn Sie bei einem Autor etwas lesen und immer die Schreibmaschine klappern hören. Wenn ich merke, da war ein Dramaturg am Werk, dann Finger weg.
FS: Das beantwortet auch schon die letzte Frage danach, was die größte dramaturgische Leistung der letzten Jahre ist: Die Dramaturgie, die es geschafft hat sich unentbehrlich und trotzdem unsichtbar zu machen. Gute dramaturgische Leistungen sind nicht sichtbar.