Woran wir glauben

Ich hätte mich für den Balistar in perfektem Weiß und Blau entscheiden können – oder für den Ultramarinlori, der auf der entlegensten aller pazifischen Inseln lebt. Oder den Waldrapp, der auf glänzenden Federn die Seelen der Toten davontrug.

Aber als ich das Bild sah, wusste ich, dass es nur der Kagu sein konnte. Er war der Vogel, den ich gesucht hatte.

Ich fand ihn im Zentrum für Austronesistik, wo ich einen Job hatte, bevor entschieden wurde, das Zentrum zu schließen. Das war auch, bevor es all die Filme gab, die »Geheimnisvolles Ozeanien« oder »Paradiese der Südsee« hießen.

Das Zimmer, in dem ich arbeitete, lag im vierzehnten Stock eines Turms, vor dem es immer stürmte. Vor meinem Fenster wehten Plastiktüten und weiße Servietten, und wenn wir mittags draußen waren, tanzten die Papiercontainer über den Platz. Abends sammelten sich die Krähen auf den Dächern und stürzten als schwarze Flecken ins Blaue.

Ich sah viel aus dem Fenster, das war das Beste an meinem Job.

Hinter einer Wandverkleidung in dem Zimmer gab es einen kleinen Spiegel und ein Waschbecken. Manchmal, wenn ich lange ein Stück Papier betrachtet hatte, stand ich auf, öffnete die Verkleidung und sah in den Spiegel.
Seit einiger Zeit waren die Leute nicht mehr erstaunt, wenn ich die Zahl nannte, die mein Alter repräsentieren soll. Ich dachte darüber nach, wenn ich dort stand. Ich fragte mich, was sich verändert hatte und ob ich anfangen würde, teure Cremes zu kaufen – wie die Frauen, über die wir früher gelächelt hatten. In Würde altern, hatten wir gesagt. Ich finde, man sollte in Würde altern. Dann kommt der Tag, an dem man in den Spiegel sieht, wie sonst, und man denkt anders über diese Frauen.

Aber ich glaubte nicht an Cremes. Ich glaubte an Masken, wie Jane.

Wenn Jane das Gefühl hatte, den Überblick über ihr Leben zu verlieren, legte sie eine Gesichtsmaske auf. Irgendwie helfe ihr das, sich weniger verloren zu fühlen, sagte sie. Es sei lächerlich, sie wisse das selbst, es sei kein Satz, den eine kluge Frau öffentlich sagen sollte. Aus irgendeinem Grund habe sie das Gefühl, dass alles eher bergauf ginge als bergab, wenn sie eine Maske trug.
Aber die Kunst ist ja nicht, eine Maske aufzusetzen, sagt man – sondern sie wieder abzunehmen.

Bei meiner Großmutter waren es Multivitamintabletten. Meine Großmutter glaubte daran. Sie hasste es, etwas ohne Geschmack zu trinken. Noch im Krankenhaus, kurz bevor sie starb, nahm sie immer eine Vitamintablette in ihr Wasser.
Jane und ich nahmen nur den Geschmack, wir aßen die Tabletten direkt aus der Schachtel. Sie waren zu viel, sie brannten und schäumten wie Waschpulver und schmeckten nach scharfer Zitrone.

Janes Mutter Alice glaubte an Cellosan. Cellosan war ein dunkelroter Saft aus siebzig Zutaten. Wenn man sie aufzählte, kam es einem vor, als hätten sie manche vor allem wegen des Namens ausgesucht. Artischocke und Kurkuma, Eisenkraut und Wollblume, Gingko, Milchdistel und Schwarzkümmel, Silberpappel, Sibirischer Ginseng und Zitronengras. Dazu Johannisbeere, Passionsblume und Grünkohl – und fast sechzig andere Früchte und Pflanzen, manche davon vergoren.
Den Saft konnte man nur kaufen, wenn man eine Cellosan-Beraterin zu sich einlud – oder wenn man jemanden kannte, der das tat. Dann standen acht oder neun Frauen um die Anrichte in der Küche, zupften an ihren hellen Kleidern und tranken schlückchenweise Cellosan aus Plastikschnapsgläsern. Die Beraterin sagte, gerade heute sei es so wichtig, etwas für die Gesundheit zu tun.
Eine Flasche Saft kostete mehr als ein Bildband über die seltensten Vögel der Welt, und fast jede der Frauen kaufte am Ende des Abends mindestens eine.

Alice versorgt Jane mit Cellosan, seit sie das Haus verlassen hat.

In Janes Kühlschrank steht immer eine offene Flasche. Wegen der vielen Zutaten sieht der Saft schnell alt aus. Er hält sich sehr lange. Wenn Jane die Flasche sieht, denkt sie an ihre Mutter. Manchmal helfe ich ihr, und wir trinken ein Glas zusammen. Ich gebe viel kaltes Wasser und Cranberrysaft dazu. Dann schließe ich die Augen und lehne mich an die Spüle.
Später setzen wir uns an den Küchentisch, und Jane zündet eine Zigarette an. Nur eine, sagt sie.

Ist Jane krank, sagt ihre Mutter: Du hast kein Cellosan getrunken.
Sie sagt: Ohne Cellosan hätte ich jetzt starkes Rheuma. Es gab Anzeichen. Sie streicht dann über ihre Hände, die schöner und jünger aussehen als unsere.

Wenn Alice krank ist, sagt Jane nichts.

In Janes Badezimmerschrank stehen jetzt verschiedene Cremes, die auch Cellosan heißen. Jane bemüht sich und verwendet sie, so gut es geht. Sie glaubt eigentlich nicht daran, aber ihre Mutter. Alice hat dafür bezahlt.

Unser Institut arbeitete an einem vergleichenden Wörterbuch der Sprachen Austronesiens. Mein Gebiet war die Gruppe Houaïlou, deren Sprachen in einem Teil Neukaledoniens gesprochen wurden. Ich war keine Wissenschaftlerin. Meine Aufgabe bestand darin, die Zettel aus den Karteikästen zu nehmen, ohne das Papier zu zerbrechen, dann die Handschriften zu entziffern und sie vorsichtig abzutippen. Manchmal brauchte ich eine Pinzette. Es war eine Aufgabe, die ich bis nach meiner Pensionierung hätte fortführen können. Wir machten Witze, dass niemand von uns das Erscheinen des vierten Bandes erleben würde.

Wird das Wörterbuch eines Tages erscheinen, werden viele der Sprachen von niemandem mehr gesprochen. Die meisten aus meiner Gruppe sind schon jetzt so bedroht wie die Vögel, die auf den pazifischen Inseln leben. Schuld ist das Französische – und James Cook, weil er die Hunde brachte.

Ich war eine der Frauen, die den Saft nicht kauften. Ich entschied mich für das Buch.

Der Kagu lebt in den Wäldern Neukaledoniens. Meistens sieht man ihn wartend oder auf hohen Beinen langsam durch den Wald schreitend. Bei Gefahr legt er sich nah auf den Boden und bedeckt seinen Kopf mit den Flügeln. Sie sind auffallend, wie schwarz-weiße Fächer. Wenn er jemandem drohen möchte, breitet er sie aus und stellt die Haubenfedern auf, die sonst lang und ruhig auf dem Rücken liegen.
Eines der Bilder zeigt den Kagu, wie er seinem Spiegelbild droht. In der Begegnung mit dem Feind, so steht es in dem Buch, ist er gleichzeitig schön und etwas lächerlich.

Der Kagu ist ein flugunfähiger Vogel. Er ist kaum getarnt und verhält sich nicht heimlich. Wegen seines pudrigen, leicht bläulichen Gefieders nennen die Inselbewohner ihn den Geist des Waldes.

Eigentlich aber, so steht es dort, weiß niemand, was er ist und mit wem er verwandt ist.

Eine Zeitlang dachte ich, ich würde eines Tages um die Welt reisen, um den Kagu in den Gebirgswäldern von Neukaledonien zu suchen. Ich würde das Korallenmeer überqueren, die blaue Lagune. Am Nordende von Zealandia, dem unterseeischen Kontinent, würde ich an Land gehen. Ich dachte lange daran, ich zog die Linien in meinem Atlas nach und drehte den leuchtenden Globus.

Erst jetzt bin ich sicher, dass es besser war, den Kagu nicht zu suchen.