Der Tag der Weißen Fahne

Am 18. Oktober 1988, während eines Gastaufenthaltes im Jerusalem Center for the Visual Arts, brachte Johannes Cladders eine weiße Fahne an die Außenmauer eines alten, ehrwürdigen Gebäudes an, das an der ehemaligen Demarkationslinie zwischen West- und Ostjerusalem stand. Bis auf die nüchterne Beschreibung des Gegenstands (Maße und Material) machte er keine weiteren Kommentare. Wie man es sich leicht vorstellen kann, fand diese Aktion wenig Verständnis bei der israelischen Polizei und die Fahne wurde kurz darauf entfernt.

Für die dortige Bevölkerung und auch für uns heute, 21 Jahre danach in Westeuropa, kann die Bedeutung dieses weißen Tuchs nicht auf seine Materialität reduziert werden, wir projizieren Bedeutung, in dem Fall eine präzise politische Bedeutung, auf dieses Objekt.
Die Überlegungen des Künstlers Cladders spielen sich genau in jenem Raum zwischen Materialität eines Gegenstands und dessen Bedeutung für den Rezipienten ab, und spielen mit der Willkür des Zeichens (»L’arbitraire du signe«) im Verhältnis zu seiner Bedeutung.

»Johannes Cladders künstlerische Aktivitäten brauchten zwar einen Autor als Bedingung ihrer Existenz, dieser verzichtete aber auf jegliche heroische Geste und stellte sich als Künstler nicht in den Vordergrund.«Jean-Baptiste Joly

Johannes Cladders war immer Künstler, man könnte sogar behaupten, er war neben seiner künstlerischen Tätigkeit für einige Jahre »zwischendurch« auch als Museumsmann tätig. In der knappen Biografie des Katalogs, den ihm die Grafische Sammlung der Staatsgalerie (1994) gewidmet hat, ist das diskrete Leben des Künstlers auf ein Minimum reduziert, es werden nur einige wenige Aktionen und Publikationen erwähnt. Seinen Namen verkürzt er auf den Anfangsbuchstaben C (C wie Caesar) und auf das Copyright-Zeichen ©, womit Johannes Cladders seine Arbeiten in der Regel signierte. Seine künstlerischen Aktivitäten brauchten zwar einen Autor als Bedingung ihrer Existenz, dieser verzichtete aber auf jegliche heroische Geste und stellte sich als Künstler nicht in den Vordergrund.

Auch wenn er zwischen seiner Tätigkeit als Künstler und seiner Arbeit als Museumsdirektor streng zu unterscheiden wusste, stimmen Cladders Aussagen als Künstler und seine Kommentare zur Kunst seiner Zeit auf wunderbare Weise überein. Wenn er vom »Wirklichkeitsanspruch von Kunst«, oder von der »Wirklichkeit von Kunst als Definition von Kunst« (Cladders Sammlungskonzept, Brief an Jean-Baptiste Joly, Frühjahr 2002) spricht, oder wenn er in einer Rede zu Robert Filliou und George Brecht sagt, dass »die scharfe Trennung zwischen Kunst und Leben nicht auszumachen ist«, so könnten diese Aussagen ebenso für seine eigenen künstlerischen Arbeiten gelten. Im Vorwort des Katalogs der Sammlung Cremer (Bd II), in der er übrigens als Künstler vertreten ist, schreibt er: »Es handelt sich dabei um Skizzen, flüchtige Notationen und Entwürfe, druckgrafische Blätter und Multiples, Einladungskarten, Relikte von Aktionen, Souvenirs aus Begegnungen. Solche Dinge führen uns nicht selten in das ursprüngliche Geröll und Gestrüpp, wo die Quelle entspringt: die, aus der sich der Fluss eines Oeuvre speist und zugleich die, die diesen Fluss schließlich als Kunst apostrophiert«. Präziser lassen sich Cladders Arbeiten nicht beschreiben! An dieser Stelle hebt Cladders die Grenze zwischen Künstler und Kunsthistoriker auf und bezieht sich mit diesem Kommentar ebenso auf die Werke der Sammlung Cremer im Allgemeinen als auch auf die eigene Arbeit.

2008
2009
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2015

»Machen Sie sich keine Illusion, Künstler sind Verbrecher«, sagte mir Johannes Cladders im Vorfeld der Eröffnung der Akademie Schloss Solitude. Das Verhältnis zwischen Künstler und Kunsthistoriker ist tatsächlich vergleichbar mit dem zwischen Verbrecher und Detektiv. Der eine bricht die Regeln und verwischt die Spuren, während der andere versucht, den Tatbestand aufzudecken. Cladders spielte abwechselnd beide Rollen und vermied möglichst jegliche Konfusion, manchmal um ein Haar, wie zum Beispiel 1970, als es darum ging, die Sammlung Etzold (in der er als Künstler vertreten war) als Dauerleihgabe für das Museum in Mönchengladbach zu übernehmen. Damals führte er die Ankaufskommission der Stadt durch die im Kölner Kunstverein ausgestellte Sammlung, ging an den eigenen Arbeiten kommentarlos vorbei und stellte sie – nach der Übernahme der Sammlung Etzold in die Bestände des Museums – nie im eigenen Haus aus.

»›Machen Sie sich keine Illusion, Künstler sind Verbrecher‹ sagte mir Johannes Cladders im Vorfeld der Eröffnung der Akademie Schloss Solitude.«Jean-Baptiste Joly

Im Januar 1995 habe ich erlebt, wie Cladders – alias Caesar – beim Aufbau seiner eigenen Ausstellung in der Akademie Schloss Solitude beide Rollen, die des Verbrechers und die des Detektivs spielte, als wäre er im selben Moment der Minister D., in Edgar Poes Geschichte Der Entwendete Brief, der das Couvert »beschmutzte und zerknitterte«, um ihn besser in »eines der oberen Fächer des Kartenständers« zu stecken und der Detektiv Auguste Dupin, der »direkt auf den Ständer zuging, den Brief nahm und ihn durch einen anderen, eine Art Faksimile ersetzte.« Es sind nicht nur Zitate aus E. Poes Der Entwendete Brief, sondern auch, wie der Zufall es will, Beschreibungen, die sich genau auf Gegenstände der Ausstellung von Cladders in der Akademie Schloss Solitude beziehen.

Im Frühjahr 2008 kam Johannes Cladders auf mich mit der Idee zu, einen Tag der Weißen Fahne einzuführen, den die Akademie Solitude über ihr internationales Künstlernetzwerk vermitteln könnte. Er war seit der Gründung dem Haus als dessen erster Juryvorsitzender und als Kuratoriumsmitglied verbunden. So wurde zwanzig Jahre nach der Aktion in Jerusalem ein Tag der Weißen Fahne ins Leben gerufen, der unter dem Motto steht: »Vergiss den 18. Oktober nicht, den Tag der Weißen Fahne«. Es wurden Menschen in der ganzen Welt animiert, für einen Tag an ihr Haus oder ihr Fenster eine weiße Fahne zu hängen.

»Die weiße Fahne signalisiert Freiheit. Wer sie am 18. Oktober hisst, setzt ein Zeichen dafür.«Johannes Cladders

Mit dieser Aktion befreit Cladders seine Kunst von der Frage ihrer Autorenschaft, die er den Teilnehmern überlässt, auch vom Zwang der Kunst des 20. Jahrhunderts »intentional auf das Museum hin angelegt« zu sein (Cladders im Katalog Penone invita Cladders). Diesen Tag wollen wir jedes Jahr wiederholen. Deshalb rufe ich Sie auf, meine Damen und Herren, am nächsten Tag der Weißen Fahne, am kommenden 18. Oktober, und an allen folgenden teilzunehmen.

Im Katalog der Sammlung Cremer ist eine Zeichnung aus dem Jahr 1984 abgebildet, die den Titel Projekt trägt. Sie zeigt eine Fahne in der typischen Cladders’schen Manier vor einem deutlich erkennbaren Umfeld, dem deutschen Pavillon in Venedig. Vielleicht gelingt es uns am 18. Oktober 25 Jahre danach eine weiße Fahne an die Außenmauer des Deutschen Pavillons anzubringen? So fordern Sie Ihre Freunde auf, sich überall an dieser Aktion zu beteiligen, denn, so Cladders, »Die weiße Fahne signalisiert Freiheit. Wer sie am 18. Oktober hisst, setzt ein Zeichen dafür.«

(Dieser Text mit dem Originaltitel »Vergiss den 18. Oktober nicht, den Tag der Weißen Fahne« entstand ursprünglich für einen Vortrag, den Jean-Baptiste Joly im Rahmen der Gedenkfeier für Dr. Johannes Cladders am 17. Mai 2009 im Museum Abteiberg hielt.)