Denkmäler

Denkmal 1
(verordnet traurig sein)

Ich gehe diese Allee hoch, Richtung Siegessäule und überall STEHEN SIE UND GLOTZEN MICH AN. Die Russen (muskulöse Arbeiter-Soldaten-Märtyrer), der scheiß Bismarck und dann diese Siegessäulen-Viktoria („wird im Volksmund Goldelse genannt“, WER SAGT DENN BITTE GOLDELSE?). Auf den Stufen zu ihr hoch Horden von lärmenden Schulklassen und ihre Lehrer in geblümten Bermuda-Shorts, also schnell weg von diesem scheiß Denkmal inmitten dieser scheiß Allee, rein in den Tunnel, den schon der Führer gerne nutzte (und DJ Hell während der Loveparade), nochmal an dem scheiß Bismarck vorbei, der doch beachtliche Ausmaße hat. Siegessicher sieht er aus, wohlgenährt. Ich höre die Stimmen einer bayerischen Touristengruppe hinter mir (Ja, so einen brauchts amal wieder!), ABER DAS SIND KEINE NAZIS, DENN SIE SAGEN DAS NICHT ÜBER HITLER, SONDERN ÜBER BISMARCK. Sagt eigentlich noch irgendwer „reaktionär“ heutzutage? (NEIN, ALLES NAZIS!).

Ich schlage mich ins Gestrüpp , Richtung Bellevue, immer im Blick von Frankies Überwachungskameras, DER BESTIMMT GRADE MIT ENGAGIERTEN BÜRGERN SAHNETORTE FRISST – SO ALS DANKESCHÖN. Plötzlich vor mir auf dem Weg ein scheiß Bulle (das Tier). Traurig sitzt er da, den Blick gen Frankies Schloss gerichtet. IST DAS JETZT DER MELANCHOLISCH-DEPRESSIVE BRUDER DIESES PHALLUS-BULLEN VON DER WALL-STREET? DER KLEINE INTELLEKTUELLE BRUDER, DER EINGESEHEN HAT, DASS DER KAPITALISMUS AM ENDE IST UND JEDEN MITTWOCH ZUM „DAS KAPITAL“-LESEZIRKEL IN DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG GEHT?

Als ich über die scheiß Allee zurück Richtung Brandenburger Tor laufe, pfeffern neben mir lauter Warnwesten-Typen Absperrgitter von irgendwelchen Lastwägen , die dann knallend auf den Asphalt prallen. Frage: Warum? WEIL HIER MAL WIEDER EIN SCHEIß MARATHON ODER RADRENNEN, ODER KINDERFEST, ODER FANMEILENSCHEIß ODER BREAD&BUTTER ODER WETT-ANSCHEIßEN STATTFINDET. WENN DER FÜHRER HIER SCHON NICHT MEHR AUS SEINEM COUPÉ WINKT, WILL MAN DIE ENTSTANDENE LEERSTELLE DANN DOCH IRGENDWIE GEFÜLLT HABEN.

Ein paar dutzend Meter weiter eine Leerstelle anderer Art. Betonstelen, dazwischen Touristengruppen. „IS THIS THE HOLOCAUST?“ NEIN, DAS IST EINE SCHEIß IDEE EINES SCHEIß-ARCHITEKTEN UND HAT NICHTS MIT DEM HOLOCAUST ZU TUN, ALSO BIS AUF DEN BESCHREIBUNGSTEXT DER DIESE MORSCHE GEDANKENBRÜCKE DANN AUF DEN BESUCHER ÜBERTRAGEN SOLL. Aber traurig und betroffen sein soll man hier trotzdem, weil das so verordnet wurde – von oben verordnete Trauer an einem verordneten Denkmal. UND DA MACHEN DIE LEUTE DANN TATSÄCHLICH SPORT ZWISCHEN DIESEN BETONSTELEN (die ja laut morscher Gedanken-Brücke tote Juden sind) ODER MACHEN DUMME WITZE UND DESHALB KOMMT DANN SHAHAK SHAPIRA UND MONTIERT DIE FOTOS DIESER MENSCHEN (unverfremdet natürlich) IN DIE BILDER VON ERMORDETEN JUDEN IN KONZENTRATIONSLAGERN UND STELLT DIESE MONTAGEN AUF EINE WEBSITE IN DIESEM INTERNET UND ERKLÄRT JEDER ZEITUNG, DASS ER JA MORALISCH SO IM RECHT SEI, DA DIESE LEUTE DA EINFACH NICHT TRAURIG SIND ÜBER DEN HOLOCUAST. Immerhin hatte dieser gewisse Architekt ja diese morsche Gedankenbrücke und deshalb ist das hier jetzt halt der Holocaust, ALSO MUSS MAN TRAURIG SEIN, SONST WIRD MAN ÖFFENTLICH DENUNZIERT IN DIESEM INTERNET! So wie man überhaupt ständig traurig sein muss in Berlin, wo es mehr Trauer-Orte als Trauernde gibt. Und deshalb werden diese unbetrauerten Trauer-Orte dann LEGITIMERWEISE ZUM SKATEN, KIFFEN UN SELFIES MACHEN UMFUNKTIONIERT!

„Reg dich nicht so auf!“, sagt Felix, den ich im Anschluss bei Vapiano treffe. „Das sind doch nur Denkmäler, die interessieren doch eh keinen, außer Touristen!“ „ABER DAS IST DOCH DAS GANZE SCHEIß PROBLEM“ sage ich, doch Felix ist schon aufgestanden und weggegangen, weil sein scheiß Pizza-Bestell-Vibrator gebrummt hat.

 

 

Denkmal 2
(individuell traurig sein)


Beim Zermahlen der Knochen

 

Männer, die Fußball spielen, in Babyn Jaar

Ein küssendes Pärchen

Ein Mann mit seinem Hund

Eine Schlucht, die keine Schlucht mehr ist

Ein Denkmal

Noch ein Denkmal

Noch ein Denkmal

Noch ein Denkmal sieben Mal

Für die sowjetischen Freiheitskämpfer

Für die Juden

Die Zigeuner

Ostarbeiter

 

Deutsche Großväter und Urgroßväter legten einst

die Lebenden auf Tote

bevor sie ihnen Löcher machten

dumpfe Schüsse, dumpfer Hall

Mal zwei, mal drei, mal vier

bis alles dalag ohne Zucken

Säuglinge warf man so hinein

bedeckte sie mit brauner Erde

 

Ein Wurm kriecht durch Babyn Jaar

doch durch Skelette kommt er kaum

Als ausgeträumt der große Traum – Deutschland, Deutschland in der Welt

Schnell ausgegraben, Knochen zermahlen

Hoffen all das Grauen, all die Schuld

löst sich auf in schwarzen Rauch

und weißes Pulver in den Fluss gestreut

Sterbende Menschen in Gaskammern

Verbrennende Leichen in Öfen und auf Scheiterhaufen

Die Geräusche sind bekannt

Schreie, wimmern, würgen, kotzen

Knistern, knacken, verpuffen, lodern

 

Doch wie klangen all die zermahlenen Knochen auf Wasser, in den Fluss gestreut

Ein leises Zischen vielleicht

Luftblasen, die zerplatzten

 

Wie klang das Zermahlen selbst

Ein Knirschen

Ein Quietschen

Ein Brechen?

 

Das Geräusch von zermahlenen Knochen auf Wasser gestreut

Man müsste es aufnehmen

Den Soundtrack des Verschwindens

Verstärken 10 millionenfach.

 

Denkmal 3
(Die Aktion)

Nieselregen tröpfelt auf mich hinunter, als ich die breite Allee das nächste Mal hinunter radle. Es ist Herbst geworden. Bismarck sieht auf seinem Sockel weniger imposant, mehr bemitleidenswert aus. Die Touristengruppen vor der Siegessäule verstecken sich unter bunten Schirmen, ein Japaner niest. Auf meinem Fahrrad sitzend bahne ich mir meinen Weg in den hinteren, von Touristen selten aufgesuchten, Teil des Tiergartens. In den Gebüschen und auf dem Weg liegt Müll, an einem kleinen Kanal stehen ein paar Zelte. Auch bei diesem Wetter herrscht hier reger Betrieb: Junge Männer, meist Afghanen, hocken auf der Vortreppe einer Kirche, manche warten vor Gebüschen. Etwa alle 10 Minuten kommt ein anderer alter, ranziger Mann zu ihnen, sucht sich einen oder zwei aus und verschwindet mit ihnen in den Büschen. Manchmal werden schon auf dem Weg dorthin flüchtige Küsse ausgetauscht, meistens überwiegt jedoch die Scham aller Beteiligten. Auch in anderen Büschen raschelt es und ein strenger Geruch lässt vermuten, dass hinter ihnen abwechselnd Heroin-Base geraucht und uriniert wird.

Die Glocken der Kirche beginnen zu läuten. Nach und nach kommen Männer und Frauen in Sonntagskleidung über die vermüllten Wege geschlendert und gehen, ohne nach links und rechts zu schauen, zu ihrem Gotteshaus und in es hinein. Eine ältere Dame bliebt auf den Stufen stehen, schiebt mit dramatischer Miene und unter Zuhilfenahme ihrer schwarz-glänzenden Schühchen ein paar leere Flaschen zur Seite und sagt zu den in ihrer Nähe sitzenden jungen Afghanen etwas, woraufhin diese aufstehen und die Treppe verlassen. Als wenige Minuten später der Strom der Gläubigen wieder verebbt und die Tür der Kirche geschlossen ist, beziehen sie wieder ihren vorherigen Standort.

Das Freiluft-Kino am Kulturforum wurde wegen einer Sturmwarnung spontan abgeblasen und so laufe ich nun mit Felix planlos durch das Sony-Center. Die Frage des noch jungen Abends: Was nun? Schließlich fällt uns ein, dass ja gerade EM ist und irgendein Spiel schon über die Leinwand am Brandenburger Tor flimmern wird. Der Tiergarten wird von einem mobilen Zaun durchzogen, an dem Männer in Warnwesten stehen, manche haben kläffende Hunde bei sich. Am Eingang zur sogenannten Fanmeile weitere Warnwesten-Menschen, die uns abtasten und unsere Taschen durchsuchen. Die Frau, die mich absucht, fragt, was ich denn da „laaanges“ in meiner Hosentasche hätte und zwinkert ihren Kollegen zu, alle lachen. Ich frage, wie oft sie den schlechten Witz pro Tag mache und sie kneift die Augenbrauen zusammen und durchsucht den Rest meiner Taschen nun um so gründlicher. Scheinbar spielt Portugal gegen Polen und die sogenannte Fanmeile ist gähnend leer. Nur direkt vor der Bühne, auf der irgendein grenz-debiler Radio-Moderator ekstatisch „Portugal!“ brüllt und Rumpelstilzchen-haft herumhüpft, stehen ein paar Männergruppen und reißen Fahnen in die Luft, brüllen mit Speichel in den Mundwinkeln den Namen ihres Heimatlandes und verschütten beim unkoordinierten Herumhampeln Bier. Erst jetzt fällt uns auf, dass das Spiel schon zu Ende zu sein scheint. Von der gegnerischen Mannschaft sehen wir keine Fans mehr, nur überall die euphorisierten Portugiesen, die uns vereinzelt aggressiv anspringen, um uns ihre Fahnen direkt ins Gesicht zu halten. Zwischen ihnen die Warnwesten-Menschen, die mit und ohne Hund herum patrouillieren und ihren Mc-Fit-Bizeps spazieren tragen. Ich erinnere mich gut an die Aufnahmen, die Hitler zeigen, wie er in seinem Coupé exakt diese Allee entlang fährt, wie am Rand aufgepeitschte Deutsche stehen und ihm zurufen. Dazwischen Ordner, die die Menge im Zaum halten.

Wieder einmal eine Vollsperrung. Große Zelte sind auf der Allee platziert worden, aus denen wummernde Bässe dringen. Schwarze Mercedes-Limousinen fahren vor, aus ihnen steigen Männer in Anzügen und Frauen in luftigen Kleidern. Ich warte auf eine Bekannte, die in den vergangenen Stunden Häppchen an die CEOs der Modewelt gereicht und Champagner in ihre Gläser geschüttet hat. Als sie schließlich auf mich zu kommt, erkenne ich sie erst auf den letzten Metern, da sie (sonst im Kapuzenpulli, verwaschener Jeans und Doc-Martens-Stiefeln) ein kurzes Glitzer-Kleid trägt und stark geschminkt ist. Während sie in einer dunklen Ecke des Parks in das gewohnte Outfit wechselt, erzählt sie, dass es gerade der Witz der Modemessen-Stunde sei, die Hostessen nach „einer Latte“ zu fragen, wobei das Kaffee-Milch-Gemisch gemeint, das erigierte Glied aber augenzwinkernd mit impliziert sei. Um alle Griffe an ihre Hüfte, ihren Po und ihre Brüste aufzulisten braucht sie drei knappe Minuten und erzählt nebenbei, dass einem der Models Backstage, beim Versuch sie in ein besonders enges Kleid mit Metallelementen zu zwängen, der halbe Oberkörper aufgeschnitten wurde. Auf den Laufsteg sei sie dann trotzdem, unter ihrer Kleidung stark blutend, hinausgegangen, weil sie ihre Gage sonst nicht voll bekommen hätte.

Denkmäler sind mitunter schön anzusehen, sie sind architektonisch oft wertvoll und stehen für den Lauf der Geschichte (zumindest die der Sieger). Dass sie nicht auf aktuelle Entwicklungen reagieren, nicht intervenieren können, ist ihnen nicht vorzuwerfen, sondern immanent. Dass es auch eine andere Art Denkmal bräuchte, wird von Künstlern und Intellektuellen immer wieder angeregt. Denkmäler, die nicht starr sind, die sich verändern können, die auf aktuelle Geschehnisse reagieren. Doch außerhalb von Museen und Galerien sind diese neuen Formen kaum zu sehen und werden es höchstwahrscheinlich auch nie sein. Denn den Herrschenden scheint jede Art des lebendigen Erinnerns suspekt. Das historisierende Erinnern hingegen ist eine sichere Bank. Vor dieser kniet es sich zu Gedenk-Anlässen besonders gut und für ihre Instand-Haltung braucht es nicht mehr als das Grünflächenamt. Ein neuer Typus von Denkmal birgt jedoch Gefahren, die jede an Macht-Konservierung interessierte Herrschafts-Form (also jede) fürchten muss. Ein lebendiges Denkmal, das von Menschen immer auf neue gestaltet wird, seinen Standpunkt überdenkt, wechselt, kann sich am Ende durchaus auch gegen die Herrschenden selbst richten.

Das lebendige „Denkmal für die Freiheit“ beispielsweise würde mit Sicherheit nicht untätig bleiben, wenn unter seinen Augen ein institutionell verankerter Rassismus, Sexismus, eine menschenverachtende Asylpolitik und ein sich patriotisch gebärdender Faschismus auflodern würden. Wenn die für diese Missstände mitverantwortlichen Minister und CEOs unter dem Blitzlichtgewitter der Presse vor ihm knien wollten, würde das lebendige Denkmal sie mit Tritten und Schlägen verjagen. Wenn Nazis vor Holocaust-Mahnmalen aufmarschierten, würde es sich nicht auf Betroffenheitsbekundungen beschränken, sondern zur Tat schreiten und die Faschisten mit allen Mitteln in die Flucht schlagen. Das lebendige Denkmal würde sich an keine Eingrenzung, an keine Demonstrationsverordnung halten, sondern ungesehen, in Kleinstgruppen organisiert, durch die Stadt fließen und sich immer dann manifestieren, wenn ihm dies nötig erscheint. Das lebendige Denkmal wäre ein ständiger Stachel im Fleisch, keine beruhigende Selbstvergewisserung der Herrschenden. Es wäre sehr schön.